Von Carl Moses, Politik- und Wirtschaftsanalyst für Lateinamerika
Zuerst muss das Defizit weg, denn Geld ist keins mehr da. Ob Renten oder Löhne, Sozial- oder Bauprogramme - alles wird radikal gestutzt. Die schwache Regierung hat sich zudem gewaltige liberale Reformen vorgenommen. Während Mehrheiten im Kongress dafür bislang fehlen, ist der Widerstand auf der Strasse garantiert.
Der neue argentinische Präsident Javier Milei hat das Volk in seiner Antrittsrede am 10. Dezember 2023 auf schwere Zeiten eingestimmt. “Die scheidende Regierung hat uns eine Hyperinflation hinterlassen, die 90 Prozent der Bevölkerung in die Armut stürzen könnte”. Milei versprach alles zu tun, “um diese Katastrophe zu verhindern”. Doch zunächst werde es schlimmer, bevor es besser werden könne. Die bereits galoppierende Inflation von bald 200 Prozent werde sich in den kommenden Monaten noch stärker beschleunigen. Die Aktivität der Wirtschaft und die Beschäftigung würden sinken, die Zahl der Armen und Verelendeten steigen, prophezeite Milei - vielleicht um die Erwartungen so stark zu dämpfen, dass er die Chance behält, sie irgendwann zu übertreffen.
Wie hart es noch werden dürfte, erfuhren die Argentinier durch die erste TV-Ansprache des neuen Wirtschaftsministers Luis Caputo. Als erste Maßnahme dekretierte die Regierung eine Abwertung des Peso um 54 Prozent. Das Staatsdefizit von 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) soll sofort beseitigt werden. Caputos Rosskur sieht eine Kürzung der Staatsausgaben um 2,9 Prozent des BIP vor, Steuererhöhungen (auch auf Exporte) sollen 2,2 Prozent des BIP in die Staatskasse spülen. Mileis wichtigste Wahlkampfschlager waren die Kettensäge zur Stutzung des überdimensionierten Staatsapparats und die Einführung des Dollars als Landeswährung. Große Teile seiner Wählerschaft dürften sehr bald sehr enttäuscht sein. Dollars für alle wird es so bald nicht geben, die Dollarisierung ist nur noch ein Fernziel. Die Kettensäge dagegen tritt voll in Aktion, doch sicher anders, als von vielen Milei-Wählern erwartet. Das schärfste Sägeblatt ist die Inflation, die alle trifft - die Ärmsten am schlimmsten.
Auf den heißesten Stühlen der neuen Regierung sitzen gewiss Wirtschaftsminister Caputo und Sicherheitsministerin Patricia Bullrich. Der eine verhängte die drakonischen Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen, die andere bereitet sich auf ein hartes Durchgreifen gegen den zu erwartenden Widerstand auf der Straße vor. Juan Grabois, einer der wichtigsten Anführer der sozialen Bewegungen, die in einem Land mit 45 Prozent Armutsrate inzwischen deutlich mehr Menschen vertreten als die traditionellen Gewerkschaften, bezeichnete die Sparmaßnahmen als “sozialen Mord” und kündigte Proteste an.
Argentiniens Expräsident Mauricio Macri, der Milei unterstützt, hatte bei seinem Amtsantritt vor acht Jahren eine wirtschaftlich und politisch vergleichsweise gute Ausgangsposition - trotzdem wagte er nur zögerliche Reformen. Milei dagegen hat beim Start seiner Regierung kaum Rückhalt im Parlament und muss zudem die nach seiner eigenen Einschätzung schwerste Krise Argentiniens bewältigen. Dazu plant Milei ein Bündel von ultra liberalen Wirtschaftsreformen, die Argentinien in einigen Jahrzehnten wieder zum Glanz weit vergangener Zeiten zurückführen sollen. Ehemalige Mitglieder der Macri-Regierung arbeiten offenbar an einem liberalen Big Bang für die argentinische Wirtschaft, der in Kürze präsentiert werden soll. Um diese Pläne durch- und umsetzen zu können, wird Milei die Zusammenarbeit mit dem politischen und sozialen Establishment - der “Kaste”, wie Milei es nennt - noch deutlich ausweiten müssen. Bisher genießt Milei lediglich die Unterstützung einzelner Politiker aus den beiden peronistischen und liberal-konservativen Vorgängerregierungen. Im Parlament hat Milei trotz Macris Unterstützung bisher nicht einmal ausreichende Stimmen, um Gesetzentwürfe der Opposition gegebenenfalls durch ein Veto ablehnen zu können, geschweige denn um eigene Gesetze durchzubringen. Wenn es Milei nicht gelingt, breitere Bündnisse mit den Altparteien und Teilen der Zivilgesellschaft zu schließen, ist nicht einmal sein Verbleib im Amt gesichert.
Argentiniens Bauwirtschaft steht vor einem Einbruch. Öffentliche Aufträge soll es nicht mehr geben. Bis private Investitionen die Lücke füllen, dürfte einige Zeit vergehen. Minister Caputo hatte seinerzeit in der Macri-Regierung ein umfangreiches Programm öffentlich-privater Partnerschaften für Infrastrukturprojekte gestartet. Als dieses endlich Fahrt aufzunehmen schien, kam die nächste Finanzkrise. Nun muss erst einmal die laufende Krise überwunden werden, bevor die privaten Investitionen auf breiter Front in Gang kommen können. Selbst die Landwirtschaft klagt. Der günstigere Wechselkurs für die Exporte werde durch die Verteuerung der Importe von Ausrüstungen und Vorprodukten mehr als kompensiert, analysiert der Ökonom Salvador Di Stefano.
Im Außenhandel sind die Importe grundsätzlich wieder vom Genehmigungsvorbehalt befreit. Gleichzeitig werden sie allerdings durch die massive Abwertung des Peso erheblich verteuert. Die zu erwartende Rezession wird ein Übriges tun, um die Importnachfrage zu dämpfen. Devisen zur Bezahlung von Importen wird es zudem auch weiterhin nur häppchenweise auf vier Monate verteilt geben, bestimmen neue Regeln der Zentralbank. Der Devisen- und Kapitalverkehr bleibt vorerst in einem engen Korsett von Restriktionen und Kontrollen. Die Notenbank hat eine Prioritätenliste veröffentlicht, welche Branchen am schnellsten mit Devisen für Importe rechnen können: Energie sofort, Nahrungs- und Arzneimittel in 30 Tagen, Autos erst nach einem halben Jahr. Um den hohen Bestand von Devisenschulden aus alten Importgeschäften abzubauen, will die Zentralbank den Importeuren in einer umstrittenen Maßnahme bis 2027 laufende Dollaranleihen anbieten. Während einige kritisieren, Caputo wolle damit “Schulden der Privatwirtschaft verstaatlichen", sagen Importeure, kein Lieferant wolle argentinische Staatspapiere in Zahlung nehmen.
Die internationale Positionierung der neuen Regierung ist aus deutscher, europäischer und amerikanischer Sicht erfreulich. Milei sieht Argentinien klar im Westen verankert. Er unterstützt Israel und die Ukraine, zu Mileis Amtseinführung reiste der ukrainische Präsident Selenski persönlich an. Argentiniens neue Außenministerin Diana Mondino zeigt sehr viel mehr Pragmatismus, als nach früheren Ankündigungen Mileis zu befürchten war. Der Ton gegenüber den wichtigsten Handelspartnern Brasilien und China bleibt halbwegs freundlich. Auch das seit 20 Jahren geplante Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur würde an Milei wohl nicht scheitern. Dennoch scheint es mehr als fraglich, ob es gelingen kann, eine Einigung über das im Grundsatz bereits 2019 ausgehandelte Abkommen in den kommenden Wochen noch zu erreichen. Danach dürfte sich das Fenster rasch wieder schließen, da das wenig Freihandels freundliche Belgien den Vorsitz in der EU übernimmt, und Frankreich sowie die gesamte EU 2024 vor Wahlen stehen.
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